Rezensionen in Auszügen
Zwei neue Rezensionen
Die zwölf Tonarten Glareans in Vokalwerken von Josquin Desprez bis Heinrich Schütz, 2 Bände (Text- und Notenband), Wilhelmshaven 2015, 70.- €, ISBN 978-3-7959-0977-2.
Gissel Siegfried: Wege zur alten Musik. Die Tonarten in der Vokalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts. – Wilhelmshaven: Noetzel, 2007 – Band I: 182 S. kartoniert – 35,00 € – ISBN 3-7959-0888-4; Band II ebenda 2009 – 463 S. kartoniert – 45,00 € – ISBN 3-7959-0918-X
(mw) Einige ganz leichte Fragen an unsere Kirchenmusiker: In welcher Tonart steht „Es ist gewisslich an der Zeit / Auf Christi Himmelfahrt allein“? G-Dur? Nein! Dann eben G-Ionisch? Auch falsch. - Und: Warum endet die dritte Zeile von „O Heiland, reiss...“ („...Tor und Tür“) auf c? Komische Frage? Keineswegs! Zum Schluss etwas Mehrstimmiges, SWV 24, Schützens doppelchörige Motette „Ach Herr, straf mich nicht in deinem Zorn“. Tonart? („Nichts Genaues weiss man nicht“ pflegte mein Griechischlehrer einst zu sagen...).
Stellen wir die Beantwortung dieser Fragen zunächst zurück. Wir bewegen uns damit auf einem Terrain, das für das Verständnis alter Musik allemal so wichtig sein dürfte wie die heute so leidenschaftlich diskutierten Fragen um Stimmtonhöhe, Temperatur, Besetzung und dergleichen mehr. Nur wird dieses „Terrain“ seit mittlerweile 300 Jahren so stiefmütterlich behandelt, dass es eher einem Irrgarten gleicht. Den Auftakt zu dieser Vernachlässigung lieferte Johann Mattheson, der mit aufklärerischer Fortschrittsfreudigkeit (und besserwisserischem Hochmut) in seinen Büchern „Das beschützte Orchestre“ (Hamburg 1717) und „Der vollkommene Kapellmeister“ (ebda. 1739) zur Jagd auf die alten Tonartenlehren blies. Zu Glarean, der mit seinem 1547 zu Basel gedruckten Dodekachordon eines der bewundernswertesten Werke zur Musiktheorie (und -geschichte) schrieb, fällt dem wortgewandten Hamburger nicht mehr ein als dies: Heinrich Loritz, der gelehrte Pickelhering von Glaris, war geschickter, auf einem Esel in den öffentlichen Lehr- Saal hineinzureiten, und andere ungesaltzene Possen zu treiben, als etwas Tüchtiges in der Ton-Kunst zu schreiben: deswegen kostete ihm auch sein Dodecachordum 20 Jahre, ein Buch daran nichts so schätzbar ist, als die darauf verwendete Zeit...“ (Der vollkommene Capellmeister, Teil I, Neuntes Capitel, Paragraph 31).
Da wir nun schon unhöflich genug waren, Mattheson zu nennen, so seien – wenigstens in Auswahl – aus der langen Reihe von Autoren einige genannt, die vielleicht nicht so flott formulierten wie Mattheson, sehr wohl aber in die gleiche von ihm begonnene Kerbe hauten: Carl von Winterfeld, August Wilhelm Ambros, Hugo Leichtentritt, Hugo Riemann, Eduard Lowinsky, Siegfried Hermelinck, Harold Powers und Christle C. Judd. Eine Serie von Irrtümern und Fehlinterpretationen! (Winterfelds Gabrieli-Buch erschien 1834, Judds phantasiereiche Erfindung neuer „modal types“ 1992). Als Einzelkämpfer gegen diese Phalanx wäre Bernhard Meier zu nennen, dessen Bücher über Alte Tonarten 1974 und 1992 erschienen, wobei ihm allerdings kein Geringerer als Carl Dahlhaus schon 1976 eine Abfuhr erteilte – oder glaubte, es zu tun...
Was wir hier, zugegeben nicht ohne Verärgerung und Kopfschütteln, als Uebersicht präsentieren, wird bei Gissel sehr viel behutsamer, sine ira et studio, dargestellt (Bd. I, S. 11-43). Die Bescheidenheit und Gelassenheit, mit der er zu Werke geht, ehrt ihn: Er kennt die musiktheoretischen Quellen (H. Glarean, H. Finck, S. Calvisius, C. Matthaei, M. Agricola, G. Dressler, J. A. Herbst u. a. m.), er zitiert sie – und er überzeugt damit. Die Proben auf die Exempla liefert er gleich mit, wenn er in umfangreichen Notenanhängen (Bd. I, S. 121-182; Bd. II, S. 163-463) Werke von Josquin Desprez. G. Gabrieli, Lasso, de Monte, Palestrina, Schütz u.a.m. bringt (netterweise in den heute üblichen Schlüsseln, ohne jene nützlichen, aber – seien wir ehrlich – doch kaum mehr vertrauten „alten Schlüssel“). Er „bringt“ sie nicht nur, er analysiert sie auch. Und hier, bei sorgsamer Lektüre (die beiden Bände sind mit „einmal gelesen“ ohnehin nicht zu bewältigen!), kann auch der Praktiker profitieren, der keine Lust hat, sein verrostetes Latein zu reaktivieren. Bevor wir zusammenfassen und auf die eingangs gestellten Fragen zurück kommen: Die so genannten „Theoretiker“ waren keine „Hinter-Weltler“, die mühsam in Lehrbücher füllten, was die progressiven Komponisten sich alles einfallen liessen: Sie waren oft selber Komponisten und wussten sehr wohl, worüber sie schrieben; ebenso waren die Komponisten reflektierende Theoretiker – man lese beispielsweise Schützens Vorrede zu seiner Geistlichen Chormusik!
Aber nun die Zusammenfassung: Schon vor Glarean kannte man folgende vier plus vier Modi: d - d („1. Modus“), e - e (3.), f - f (mit b = 5.) und g - g (7. Modus). Das waren die „authentischen“ Modi: Durch Umgruppierung der obersten vier Töne („Tetrachord“) nach unten entstanden die vier „plagalen“: a - a = 2. Modus (Schlusston, „Finalis“ ist d), h - h = 4. Modus (finalis e), c - c (mit b!) = 6. (finalis f), d - d = 8. Modus (finalis g, also mit dorisch nicht verwechselbar!). Glarean komplettierte diese Aufstellung, er fügte (a - a) den „Aeolius“ und den „Lydius“ (mit h!) hinzu, das macht zusammen mit den Hypo-Ableitungen sechs plus sechs Modi; den ins Abseits geratenen Ionicus, den es de facto schon gab, setzte er in seine alten Rechte ein. Die griechischen Termini („dorius“ etc.) hat er überhaupt erst eingeführt und damit die o. g. Nummerierungen ersetzt.
Wie stand es mit dem Transponieren? Das war keineswegs so beliebig, wie man denkt (und heute noch übt: „Wie lautet dorisch fis“? Unsinn: das hat es nie gegeben!). Ausser den oben genannten Positionen (z. B. „Dorius regularis“) gab es gerade mal eine Transposition (g - g mit vorgezeichnetem b als „Dorius transpositus“). Gleiches gilt für die plagalen Modi. Vielleicht betrachtet der Leser jetzt mit nützlicher Irritation die eine oder andere Motette im Gölz oder Grote, in der Schützausgabe, im „Chorwerk“ und in vielen anderen Ausgaben – und nicht zuletzt auch die Melodien im EG oder GL ... – Neben den charakteristischen Tonumfängen (ambitus) der Melodien (und der Einzelstimmen im mehrstimmigen Satz) und neben der Finalis ist noch die „Repercussa“ wichtig als zweitwichtigster Ton der jeweiligen Tonart (z. B. dorich: a, hypodorisch: f), ferner als melodischer „Zwischenstop“ die sog.Clausula(e): Im dorischen sind das d oder f oder a; andere Haltepunkte gelten als „fremd“, als „Cl. peregrinae“.
Und nun – endlich – zurück zu unseren Eingangsfragen:
1.) „Es ist gewisslich...“ müsste in F statt in G stehen (mit einem b als Vorzeichen). Wir hätten dann einen ambitus von c1 („... werden teur“) bis c2 („...Gottes Sohn“), mit der finalis f („...schrei-bet“). Die Repercussa ist a (deutlich oft angesteuert), die Clauseln sind a, f und c. Alles das zusammen zeigt uns: Die Melodie steht im Hypoionicus transpositus.
2.) „O Heiland, reiss...“: eindeutig d-d mit bevorzugtem a als Repercussa, also dorisch. Die Clauseln sind d, f ,a – nicht c! Wieso aber wird dieses „peregrine“ c angesteuert? Weil von Tor und Tür die Rede ist, die uns den Zugang sperren, nun aber abgerissen werden sollen! (Moduslehre heisst immer auch: ein Stückchen Kompositionslehre.)
3.) Schütz: In mehrstimmigen Sätzen sind Diskant und Tenor die „iudices modorum“, d.h., sie entscheiden über den Modus ; es ist nicht schwer, sie hier als Phrygisch zu identifizieren (die anderen Stimmen, besonders deutlich der Alt, sind hypophrygisch). Wenn wir uns den Text vergegenwärtigen – Psalm 6 – verstehen wir, was A. Herbst zu diesem Modus schrieb: „... ist von Natur Zornig und Saurzappfig... Es schicken sich zu diesem Modus saure und harte Wort / Streit/ Verlachung / widerwillen und dergleichen.“
Noch Fragen? Natürlich – jetzt erst recht! Die Antwort lautet: Lesen Sie Gissels Publikation. Sie wird, je mehr man in die Materie eindringt, immer spannender!
1.) „Es ist gewisslich...“ müsste in F statt in G stehen (mit einem b als Vorzeichen). Wir hätten dann einen ambitus von c1 („... werden teur“) bis c2 („...Gottes Sohn“), mit der finalis f („...schrei-bet“). Die Repercussa ist a (deutlich oft angesteuert), die Clauseln sind a, f und c. Alles das zusammen zeigt uns: Die Melodie steht im Hypoionicus transpositus.
2.) „O Heiland, reiss...“: eindeutig d-d mit bevorzugtem a als Repercussa, also dorisch. Die Clauseln sind d, f ,a – nicht c! Wieso aber wird dieses „peregrine“ c angesteuert? Weil von Tor und Tür die Rede ist, die uns den Zugang sperren, nun aber abgerissen werden sollen! (Moduslehre heisst immer auch: ein Stückchen Kompositionslehre.)
3.) Schütz: In mehrstimmigen Sätzen sind Diskant und Tenor die „iudices modorum“, d.h., sie entscheiden über den Modus ; es ist nicht schwer, sie hier als Phrygisch zu identifizieren (die anderen Stimmen, besonders deutlich der Alt, sind hypophrygisch). Wenn wir uns den Text vergegenwärtigen – Psalm 6 – verstehen wir, was A. Herbst zu diesem Modus schrieb: „... ist von Natur Zornig und Saurzappfig... Es schicken sich zu diesem Modus saure und harte Wort / Streit/ Verlachung / widerwillen und dergleichen.“
Noch Fragen? Natürlich – jetzt erst recht! Die Antwort lautet: Lesen Sie Gissels Publikation. Sie wird, je mehr man in die Materie eindringt, immer spannender!
Zum Schluss noch ein Surf-Tipp: Die University von Kentucky hat ein komplettes Faksimile des Dodekachordon ins Netz gestellt:
University of Kentucky: Dodekachordon by Henricus Glareanus, 1488-1563.
(Württembergische Blätter für Kirchenmusik, Heft 2, 2010, S. 31f.; Rezensent: Prof. Dr. Martin Weyer)
University of Kentucky: Dodekachordon by Henricus Glareanus, 1488-1563.
(Württembergische Blätter für Kirchenmusik, Heft 2, 2010, S. 31f.; Rezensent: Prof. Dr. Martin Weyer)
Rezensionen zu den beiden Büchern: Untersuchungen zur mehrstimmigen protestantischen Hymnenkomposition in Deutschland um 1600, Kassel 1983.
Dank Luthers konservativer Einstellung zu den Fragen der Liturgie blieb, wie bekannt, im Bereich seiner Kirche u.a. auch der Gesang lateinischer Hymnen, als Bestandteil der Nebengottesdienste, weiterhin im Gebrauch; und wie schon in vorreformatorischer Zeit konnten diese Hymnenmelodien auch in mehrstimmiger Bearbeitung erscheinen. Aus dieser Lage der Dinge erklärt es sich, daß zur Verwendung im protestantisch-lutherischen Gottesdienst noch bis ins frühe 17. Jahrhundert Bearbeitungen altüberlieferter Hymnenmelodien, meist als Zyklen für das ganze Kirchenjahr, entstehen konnten. Drei solcher Zyklen, die Hymni sacri von Leonhart Schröter (1587), die Hymni quinque vocum von Bartholomaeus Gesius (1595) und die Hymnodia sionia von Michael Praetorius (1611) bilden den Gegenstand des hier zu besprechenden Buches.
Daß ein so umfangreiches Material nicht Stück für Stück und Takt für Takt, sondern nur exemplarisch analysiert werden konnte, versteht sich von selbst; doch liegt den Gesichtspunkten, nach welchen der Verfasser seine Beispiele auswählt und betrachtet, eine solche, bis ins kleinste Detail gehende Untersuchung unverkennbar zugrunde. Was generell konstatiert worden ist und nun exemplarisch aufgewiesen wird, sind zunächst die verschiedenen Arten der Cantus-firmus-Behandlung, die von der starr mensurierten, an eine Stimme gebundenen Durchführung der Choralmelodie bis zu deren Aufgehen, ja bisweilen schon Verschwinden im Ganzen des durchimitierenden Satzes führen kann. Der zweite Hauptpunkt, auf den sich das Interesse des Verfassers konzentriert, ist die Frage der Tonarten. Gerade diese Frage wird von Gissel „ab radice“ behandelt: seine Ausführungen auf den Seiten 39ff. führen, angefangen von der Mitte des 16. und fortschreitend bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, alle hierfür maßgebenden Stellen deutscher Autoren (von Hermann Finck bis Conrad Matthaei) an und erheben, da sie diese Ausführungen stets auch im Wortlaut zitieren, das Buch – weit über seinen Titel hinaus – zu einer für jeden an Musik des 16. Jahrhunderts interessierten Leser unentbehrlichen Quellenpublikation. Wie sehr die Darlegungen dieser vom Verfasser angeführten Theoretiker auch für die Praxis maßgebend gewesen sind, erweist sich sodann an den als Beispiele ausführlich besprochenen Hymnen – wobei auch gewisse Schwierigkeiten, die durch modal atypische Gestalt der Cantus firmi motiviert sind, offen zur Sprache kommen.
Daß ein so umfangreiches Material nicht Stück für Stück und Takt für Takt, sondern nur exemplarisch analysiert werden konnte, versteht sich von selbst; doch liegt den Gesichtspunkten, nach welchen der Verfasser seine Beispiele auswählt und betrachtet, eine solche, bis ins kleinste Detail gehende Untersuchung unverkennbar zugrunde. Was generell konstatiert worden ist und nun exemplarisch aufgewiesen wird, sind zunächst die verschiedenen Arten der Cantus-firmus-Behandlung, die von der starr mensurierten, an eine Stimme gebundenen Durchführung der Choralmelodie bis zu deren Aufgehen, ja bisweilen schon Verschwinden im Ganzen des durchimitierenden Satzes führen kann. Der zweite Hauptpunkt, auf den sich das Interesse des Verfassers konzentriert, ist die Frage der Tonarten. Gerade diese Frage wird von Gissel „ab radice“ behandelt: seine Ausführungen auf den Seiten 39ff. führen, angefangen von der Mitte des 16. und fortschreitend bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, alle hierfür maßgebenden Stellen deutscher Autoren (von Hermann Finck bis Conrad Matthaei) an und erheben, da sie diese Ausführungen stets auch im Wortlaut zitieren, das Buch – weit über seinen Titel hinaus – zu einer für jeden an Musik des 16. Jahrhunderts interessierten Leser unentbehrlichen Quellenpublikation. Wie sehr die Darlegungen dieser vom Verfasser angeführten Theoretiker auch für die Praxis maßgebend gewesen sind, erweist sich sodann an den als Beispiele ausführlich besprochenen Hymnen – wobei auch gewisse Schwierigkeiten, die durch modal atypische Gestalt der Cantus firmi motiviert sind, offen zur Sprache kommen.
Wir haben bisher von den musik-analytischen Partien des Buches gesprochen. Nicht geringeres Lob verdient das Werk aber auch als bibliographische und editorische Leistung: wird doch für jedes Stück der drei Hymnenzyklen die Herkunft seiner Texte – meist aus Lucas Lossius' Psalmodia – nachgewiesen und auch jede eventuell vorhandene Variante sorgfältig verzeichnet; überdies findet sich am Ende des Buches (S. 170ff.) ein mehr als hundert Seiten umfassender, mit gleicher Sorgfalt erstellter „Katalog der mehrstimmigen protestantischen Hymnenkompositionen in Deutschland von der Reformation bis 1618“. Vergessen sei endlich nicht der Notenteil des Werkes, in welchem die bisher unedierten Hymnenzyklen von Schröter und Gesius (von welch letzterem nur mehr ein einziges Exemplar bekannt ist) erstmals zur Kenntnis der musikhistorisch interessierten Öffentlichkeit gelangen.
Bei dem Buch von Gissel handelt es sich somit um eine Leistung, die uneingeschränkten Lobes würdig ist. Es wäre zu wünschen, daß dieses Buch nicht nur seinen Platz in allen wissenschaftlichen Bibliotheken fände, sondern auch von jedem, der sich mit Musik der Renaissance befaßt, sorgfältig studiert würde.
(Die Musikforschung, 40. Jahrgang, 1987, S. 73; Rezensent: Prof. Dr. Bernhard Meier)
(Die Musikforschung, 40. Jahrgang, 1987, S. 73; Rezensent: Prof. Dr. Bernhard Meier)
Hymnen scheinen im protestantischen Bereich eine größere Rolle gespielt zu haben, als gemeinhin vermutet wird. In Gissels Katalog der Hymnenkompositionen, der die Grundlage für die vorliegende Untersuchung bildet, werden 125 verschiedene Hymnen aufgeführt, die zu 766 nachweisbaren Vertonungen allein im Zeitraum zwischen 1538 und 1618 Anlaß waren. Wurden die Hymnen und ihre figurale Ausführung von der evangelischen Kirche benutzt und wurden sie an dem ihnen angestammten Platz in der Offiziumsliturgie belassen?
Siegfried Gissel geht der Geschichte des Hymnus nach, verfolgt sie von den frühesten Aussagen in der patristischen Literatur an und kann die Reste einer Hymnenpflege noch in den lutherischen Nebengottesdiensten nachweisen, insbesondere in der Vesper. Doch wann und wo wurden sie nach weiteren hundert Jahren reformatorischer Kirche gesungen? Die Vermutung, es habe sich der Gebrauch der Hymnen aus den engen Grenzen der Vesperliturgie allmählich gelöst, können die zahlreichen herangezogenen Drucke (78) weder widerlegen noch bestätigen. Hier dürfte eine Nachfrage, die auch soziologische Gesichtspunkte einbezieht, sicher eine lohnende Ergänzung beitragen.
Die vorliegenden Untersuchungen liefern für solche weiteren Fragestellungen gute Voraussetzungen. Gissel stellt paradigmatisch drei Hymnensammlungen in den Mittelpunkt, die Hymni sacri von Leonhart Schröter (1587), die Hymni quinque vocum von Bartholomaeus Gesius (1595) und die Hymnodia sionia von Michael Praetorius (1611). An ihnen verdeutlicht er drei Kompositionstypen, die motettische Satzweise, die madrigalische und die Satzweise auf Clausuln Art. Die jüngste ist wohl die madrigalische Behandlung bei Praetorius, und diese steht am Ende eines Weges, auf dem die Hymnenkomposition immer mehr unter den Einfluß der Motette geraten ist. Einblicke in die Kompositionsweise ermöglichen vor allem die Untersuchungen zum Modus. Gissel stützt sich hier auf Ergebnisse von Bernhard Meier und kann nachweisen, daß das Bestreben, auch in der mehrstimmigen Komposition den vom Hymnus vorgegebenen Modus beizubehalten um die Jahrhundertwende abzunehmen beginnt, indem der c.f.-Modus und der Satz-Modus nicht immer übereinstimmen. Gerade in diesem, der Modusbestimmung gewidmeten Teil, trägt die Studie zur Analyse des Stilwandels um 1600 und zum zeitgenössischen Musikverständnis wesentlich bei, da Gissel den theoretischen Aussagen der Zeitgenossen die Kompositionen unmittelbar gegenüberstellt.
Der umfangreiche Katalog der Hymnenkompositionen um 1600 – er umfaßt allein 120 Seiten – überrascht nicht nur in seiner Fülle an Hymnen und Komponistennamen (darunter auch weniger bekannte wie Georg Blanckenmüller, Matthias Eckel, Nikolaus Kropstein, Thomas Pöpel u.a.), sondern auch durch die kirchlichen Anlässe, denen die Hymnen im protestantischen Bereich zugewiesen werden. Da feiert die reformatorische Kirche offenbar noch immer die Heiligentage der Barbara, Katharina, Hanna und Anna samt Mauritius, Dionysius, Bernardo nebst verschiedenen Marienfesten, so daß sich die Frage nach der Zweckbestimmung nochmals aufdrängt. Gerade aber diese Liste macht die Arbeit doppelt ergiebig, stellt sie doch ein Kompendium dar, das sicher der Praxis großen Nutzen leisten kann. Denn hier bietet sich geradezu ein Stück musikalischer Oekumene an. Um so bedauerlicher ist es, daß die wenigsten der aufgeführten Hymnen heute in Neudrucken vorliegen. Ein Anfang ist freilich gemacht. In einem Notenteil hat Gissel erstmals die Hymni sacri von L. Schröter und die Hymni quinque vocum von B. Gesius herausgegeben. Da sie in modernen Schlüsseln notiert sind, können sie von hier aus für die Praxis unmittelbar zurückgewonnen werden.
(Musik und Kirche, 55. Jahrgang, 1985, S. 26; Rezensent: Dr. Oswald Bill)
(Musik und Kirche, 55. Jahrgang, 1985, S. 26; Rezensent: Dr. Oswald Bill)